So langsam finden sich immer mehr neue Westler hier ein: Vor allem in den westlich geprägten Cafés und Restaurants drängen sich viele europäische und außereuropäische Nationalitäten. Die Saison beginnt.
In einem der angesagten Cafés sitzt ein junger Inder an einer kleinen Mühle und bietet an, biologisch gezüchtetes Weizengras zu pressen und für umgerechnet 1,30 Euro bekommt man ein Schnapsgläschen voll mit gesundem Weizengrassaft. Der junge Mann hat sein eigenes Geschäft im Café aufgemacht und hofft – wie so viele arme Inder – auf eine „Rags-to-riches“ (aus Lumpen zum Reichtum) Karriere – die indische Version des amerikanischen Traums vom Tellerwäscher zum Millionär. Und der Restaurantbesitzer freut sich über die Kunden, die gesund leben wollen und das vergünstigte Sonderangebot – eine Woche jeden Tag ein Schnapsgläschen – in Anspruch nehmen und gleichzeitig bei ihm etwas konsumieren.
Ähnlich einfallsreich ist die Geschichte von dem Mann, der jeden Tag auf einem indischen Bahnhof steht und diejenigen Menschen einsammelt, die den Zug verpasst haben, und sie dann zu einem vernünftigen Preis zur Arbeit fährt. Es gibt einen Begriff in der Hindi-Sprache, der Jugaad heißt und so viel wie kreative Improvisation, erfinderisch sein und Niederlagen nicht zu akzeptieren bedeutet. In diesem Sinne wird eine verpasste Gelegenheit, Geld zu verdienen als unverzeihliche Verschwendung gesehen.
Das Streben nach persönlichem Wohlergehen verbinden die Hindus und Inder ganz praktisch mit ihrem spirituellen Leben; letzteres gibt ihnen Stärke und Hoffnung. Ein indischer Diplomat drückte dies einmal so aus: „Der Hinduismus ist voller geheimnisvoller Möglichkeiten eines tropischen Dschungels.“
Wie gesagt beinhaltet die Spiritualität immer eine praktische Dimension: Die Hindupriester aus der Kaste der Brahmanen möchte für jede Zeremonie, die er durchführt, bezahlt werden, die Sadhus strecken bittend die Hand nach Rupien aus und segnen einen dafür.
Wie bekannt sind den Indern die Kühe heilig. Das heißt nicht nur, dass die Kühe unbehelligt mitten auf der Straße stehen können und jeder einen großen Bogen um sie herum macht, sondern hat auch zur Folge, dass die Dehnungsfugen der unzählichen Eisenbahngleise im ganzen Land so konstruiert sind, dass die Hufe der Tiere sich nicht darin verfangen können. Wer würde im Westen an so etwas denken…
Die Spiritualität der Inder, die viele von uns Westlern so in dieses Land zieht, uns fasziniert und immer wiederkommen lässt, führt nicht unbedingt zu einem ethisch vorbildlichen Verhalten im Alltag. Die Inder denken nicht in Schwarz-Weiß Dimensionen, es gibt unzählige Grauschattierungen. In dieser Grauzone bewegt sich auch die Korruption, die so schwierig zu bekämpfen und überhaupt festzustellen ist. Es sei genauso schwierig festzustellen, ob ein Regierungsbeamter Gelder annimmt, wie ob ein Fisch Wasser trinkt, sagt Pavan K. Varma, ein indischer Schriftsteller. Korruption erhöht die Effizienz und hat nichts mit absoluten Moralbegriffen zu tun.
Im heutigen Indien gibt es noch eine gewaltige Schere zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und Tradition und Aberglaube. Einerseits explodiert die Zahl der Universitätsabsolventen vor allem im IT-Bereich, andererseits akzeptieren viele dieser jungen Männer immer noch, dass ihre Eltern sich im Freundes- und Bekanntenkreis umschauen, Anzeigen in Tageszeitungen schalten mit Angabe der gewünschten Religion, Kastenzugehörigkeit und Hautfarbe (je heller desto besser) und eine ihrer Meinung nach passende Frau aussuchen. Im Bundesstaat Kerala, in dem der Bildungsstand sehr viel höher ist als in anderen Staaten, beginnt sich jedoch Tinder, eine internetbasierte Kontaktbörse, zu verbreiten. Das ist fast schon eine Revolution. Andererseits haben traditionsorientierte Jugendliche in Kerala noch im Jahr 2014 ein Café angegriffen und demoliert, in dem Paare ein und ausgingen, die sich dort – sozusagen öffentlich – küssten. Das ist immernoch ein No-go.
Ich hatte einmal einen indischen Kollegen, der in der IT-Abteilung der Firma arbeitete, in der ich den Verwaltungsbereich leitete. Er hatte es gewagt, gegen alle Hindernisse die Frau zu heiraten, in die er sich auf dem College verliebt hatte; sie war auch noch aus einer etwas höheren Kaste und die beiden mussten um ihre Liebe kämpfen. Ich habe sie als ein glückliches Paar gesehen und erlebte ihren Elternstolz nach der Geburt ihres ersten Kindes in Deutschland. Aber der junge Inder war immer etwas unter Druck, seine Fähigkeiten zu beweisen und Karriere zu machen und arbeitete sehr, sehr hart. Zudem wollte er nicht wieder nach Indien zurück. Nach Frankfurt war London seine nächste berufliche Station. Die beiden wollten der Traditionsgläubigkeit ihres Landes entgehen.
Der Aberglaube treibt aber, wie gesagt, immernoch seine Blüten. So habe ich gelesen, dass 50 km entfernt von Kalkutta auf dem Land ein junges Mädchen mit einem Hund verheiratet wurde, da der Dorfastrologe dazu geraten hatte.
All die Westler, die auf der Suche nach spirituellen Gipfelerlebnissen nach Indien kommen und Gurus (be)suchen, erleben einen speziellen Ausschnitt des indischen Lebens. Sicher hat dies vielen zu einer erneuerten und erweiterten Sicht des Lebens verholfen, der Alltag in Indien sieht anders aus, ist dies nicht.